Freitag, 11. September 2015

Die somatoforme Störung – ein Witz?


(VorbemerkungDie Myalgische Enzephalomyelitis – hierzulande meist unzutreffend als „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ oder „CFS“ bezeichnet – wird häufig fälschlich als eine sogenannte somatoforme Störung angesehen und auch so diagnostiziert und therapiert. In meinem Buch behandele ich dieses Problem ausführlich und zeige auf, weshalb eine ME-Erkrankung nicht mit einer der somatoformen Störungen kompatibel ist.)


Kennen Sie den?

Fragt der Pfarrer im Religionsunterricht: „Was ist das? Es ist rot, hat einen buschigen Schwanz und springt von Baum zu Baum?“

Meldet sich Klein-Fritzchen: „Normalerweise würde ich sagen, es ist ein Eichhörnchen, aber wie ich den Laden hier kenne, ist`s bestimmt mal wieder der liebe Herr Jesus!“

Was hat aber dieser niedliche Witz mit den sogenannten „Somatoformen Störungen“ zu tun?

Nach der Definition sind das zentrale Merkmal einer somatoformen Störung körperliche Beschwerden, die auf einen medizinischen Krankheitsfaktor hindeuten, ohne dass jedoch eine hinreichende medizinische Erklärung für diese Beschwerden gefunden wird.

Und da liegt auch schon gleich der Hase im Pfeffer. Denn wie soll man ausschließen, dass es nicht doch eine Erklärung für die Beschwerden gibt? Die Ursache der Beschwerden ist ja nur nicht gefunden worden, was nicht heißt, dass sie nicht existiert. Oder aber sie ist gefunden worden, wurde jedoch vom Arzt als nicht ausreichend betrachtet, die Beschwerden zu begründen.




Würde der Arzt nun naturwissenschaftlich vorgehen, läge es nahe, die eigenen Untersuchungs- und Messmethoden in Frage zu stellen. Genau das aber verweigert der Psychosomatiker dem Patienten. Er erklärt seine Untersuchungs- und Messmethoden (bzw. die der Voruntersucher) zu den einzig objektivierenden und seine rein subjektive Einschätzung, dass die eventuell vorhandene Ursache nicht die Stärke und Dauer der Beschwerden erkläre, zu der einzig richtigen.

Darüber hinaus verweigern viele Psychosomatiker dem Patienten auch noch den Nachweis einer Verbindung seiner Beschwerden mit „psychischen Faktoren“, „mit belastenden Ereignissen oder Problemen“ oder „mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen […], denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen“ zukommen müsste bei korrekter Diagnosestellung einer somatoformen Störung nach ICD-10-GM.

Im Klartext bedeutet das, dass vielen Psychosomatikern der somatische Negativbefund genügt und sie einen psychischen Positivbefund für die Stellung einer Psychodiagnose als überflüssig erachten.

Die Diagnose einer somatoformen Störung, die auf diesem Wege zustande kommt, bleibt also nichts weiter als die bloße Behauptung, dass keine hinreichende Ursache für die Beschwerden existiere, gestützt auf die reine Unterstellung, dass der Patient unverarbeitete psychische Konflikte haben müsse, die zu seiner Symptomatik geführt haben werden.

Dem Patienten wird damit ein psychosomatisches Etikett aufgeklebt, das nichts, absolut gar nichts darüber aussagt, woran dieser Patient nun wirklich leidet. Ein nur halbwegs gescheiter Arzt ist immerhin fähig, eine Blinddarmentzündung zu diagnostizieren, wenn der Patient ein paar typische Blinddarmentzündungssymptome darbietet wie Schmerzen im rechten Unterbauch, vor allem beim Gehen und beim Anheben des rechten Beines, eine angespannte Bauchdecke, Fieber und Übelkeit.

Ein Psychosomatiker läuft jedoch leicht Gefahr, die richtige Diagnose zu verkennen und dem Patienten fälschlich das Etikett einer somatoformen Störung zu verpassen – mit zuweilen gravierenden Folgen. Denn die Fixierung auf derartige Diagnosen lädt zu dem falschen Schluss ein, der Patient leide unter seinen Beschwerden, weil er eine somatoforme Störung habe.

Doch eine solche Schlussfolgerung ist das logische Äquivalent zu der sinnfreien Feststellung, der Patient leide an seinen Beschwerden, weil er an seinen Beschwerden leide.

Solange es keine Marker für somatoforme Störungen gibt und keinen zweifelsfreien Nachweis einer Verbindung der Beschwerden zu einem emotional oder psychisch belastenden Konfliktgeschehen, ist die Diagnose einer sogenannten somatoformen Störung nichts weiter als heiße Luft, ein bloßes Label, das nichts erklärt und nicht einmal etwas zu erklären versucht und dessen Hauptmerkmal Beliebigkeit ist.

Das Label trägt dabei keineswegs zur ursächlichen Abklärung der Beschwerden des Patienten bei und führt deshalb auch nicht zu einer angemessenen Therapie mit der Aussicht auf Besserung oder gar Heilung, sondern es dient einzig und allein der Kostenentlastung des Gesundheitssystems, der Aufrechterhaltung eines Berufstands, nämlich dem der Psychosomatiker, und der Aufrechterhaltung der Fassade des allwissenden Arztes, der mithilfe dieses Labels seine Machtposition gegenüber dem Patienten sichert und der unangenehmen Aufgabe enthoben wird, seine Rat- und Hilflosigkeit zugeben zu müssen.




Das starrsinnige Festhalten so zahlreicher Psychosomatiker an ihrer Deutungshoheit und das Auskosten ihrer Machtposition gegenüber dem Kranken haben sich mit der fortschreitenden kostensparenden Verschlankung des Gesundheitssystems bedauerlicherweise zu besonderen Charakteristika vieler dieser Fachrichtung Zugehörigen entwickelt – ganz entgegen den Bestrebungen ihrer einstigen Begründer, wie z.B. Thure von Uexküll.

Doch ihre inflationäre Vergabe solcher nichtssagenden und dennoch stigmatisierenden Diagnosen, denen sich so mancher Psychosomatiker aus dem Füllhorn der Beliebigkeit zu bedienen scheint, höhlt auf die Dauer dann doch die Autorität eines derart überheblichen Diagnostikers aus und nährt langsam, aber stetig die Zweifel auch des genügsamsten und eingeschüchtertsten Patienten.

Im Grunde geben Psychosomatiker dieses Schlages sich selbst der Lächerlichkeit preis. Womit wir wieder bei dem Klein-Fritzchen-Witz angelangt wären, den man in Anbetracht der für die Patienten so schmerzlich spürbaren Allmachtsfantasien und Omnipotenzbestrebungen etlicher Psychosomatiker auch so abwandeln könnte:

Fragt der Professor für Psychosomatik die Studenten bei der Visite: „Welche Verdachtsdiagnose würden Sie diesem Patienten geben: Er hat Schmerzen im rechten Unterbauch, vor allem beim Gehen und beim Anheben des rechten Beines, eine angespannte Bauchdecke, Fieber und Übelkeit?“

Meldet sich Student Fritz: „Normalerweise würde ich sagen, es ist eine Blinddarmentzündung, aber wie ich den Laden hier kenne, ist`s bestimmt mal wieder eine somatoforme Störung!“


Mehr zu diesem Thema und den Hintergründen in meinem Buch.

Bildnachweise:

Pieter Boel, Stillleben mit totem Hasen, www.commons.wikimedia.org
André Brouillet, Une leçon clinique à la Salpêtrière, www.commons.wikimedia.org



Katharina Voss, Copyright 2015